Freitag, 4. September 2015
Vom Suchen und Finden
Vom Suchen und Finden

Ich kramte den kleinen Zettel mit den wenigen Notizen aus meiner Handtasche.

Michalis S., um die 60 Jahre, drei Kinder, Faliraki.

Mehr Angaben hatte ich nicht von einer Bekannten aus Österreich erhalten, die Michalis seit geraumer Zeit suchte, aber nicht finden konnte.

Als sie hörte, dass ich nach Faliraki reisen würde, kam ihr spontan die Idee, dass ich vor Ort sicher mehr in Erfahrungen bringen könnte, als sie von Österreich aus.
Ich legte den Zettel erstmal bei Seite, darum würde ich mich in den nächsten Tagen kümmern.
Nur wie? Faliraki, diese Touristenhochburg mit unendlich vielen Menschen, die hier in der Gastronomie arbeiten während des Sommers, zählte während der Sasion ca. 3000 Einwohner.
Davon sind 1000 nur in den Sommermonaten vor Ort. Zudem war der Nachname des Michalis so etwas wie bei uns Meier, Müller, Schulze.
Also stellt sich die Frage, wer stammt tatsächlich von hier und kennt die Familienzusammenhänge ?

Nach ein paar Tagen des Eingewöhnens war meine erste Anlaufstelle Maroula, die bezaubernde Köchin unseres kleinen Hotels, die täglich mit unendlicher Euphorie kochte.
Während sie mir mal wieder von ihren Köstlichkeiten erzählte und sofort den Notizblock herausholte, um mir Stichpunkte mitzugeben, kam mir der Gedanke, dass sie sicher schon ewig hier im Dorf lebt.

"Sag mal Maroula, stammst du von Faliraki?"

"Eigentlich schon, aber ich war 20 Jahre in Australien, bis mich mein Heimweh packte und ich wieder zurückkehrte. Warum fragst du?"

"Ich suche jemanden."

Sofort legte sie den Stift beiseite.

"Wen???"

Das in die Wiege gelegte Gen der Neugierde stand ihr förmlich ins Gesicht geschrieben. Dazu paarte sich umgehend die ewige Suche nach Geschichten, die das Leben schreibt und diese sind bekanntlich die spannensten.

"Ich kenne ihn selbst nicht. Einen Michalis S., der von hier stammt und jetzt ca. 60 Jahre als sein muss."

"Aha, und warum suchst du ihn?"

"Eine Bekannte bat mich darum, sie hat hier vor über 30 Jahren Urlaub gemacht und wollte ihn gerne wiedersehen."

"Maria, haben die zwei ein Kind zusammen und er weiß es vielleicht nicht?
Ich bekomme Gänsehaut, schau her."

Ich musste unwillkürlich lachen. Die Phantasie der Griechen.
"Nein, nein. Sie hat sich damals mit ihrer Familie einfach nur wohl gefühlt hier auf Rhodos und in der Nähe von Michalis und seiner Familie."

"Ach so. Ok. Schließt es ja trotzdem nicht aus," lachte sie los.

"Ich war zu lange fort, du musst jemanden fragen, der hier schon ewig lebt.
Aber halte mich bitte auf dem Laufenden."

Griechen lieben solche Geschichten. Und Maroula ließ sich nun gar nicht mehr bremsen.

"Maria, genau das macht das Leben aus. Menschen, die Menschen suchen. Menschen, die alte Bekannte vermissen, sich an sie erinnern. Das sind die Gefühle, die uns antreiben und zu Menschen machen."

Während sie über das Leben und den Sinn darin philosophierte, schnitt sie ihre Zwiebeln und wischte sich ständig Tränen von den Wangen.
Weder ich noch sie kannten Michalis, aber das war auch völlig nebensächlich geworden.
Jemand in Österreich suchte einen Taxifahrer von Rhodos, den er vor über 30 Jahren kennengelernt hatte, nur das zählte in diesem Augenblick.

Am nächsten Tage bestellten wir ein Auto bei Despoina für die Inselrundfahrt.
Während die Formalitäten erledigt werden mussten, erkundige ich mich bei ihr, ob sie aus Faliraki stammte.

"Ja, und mein Großvater hatte den ersten Souflakistand unten im Ort, als die ersten Touristen auf unsere schöne Insel kamen," erzählte sie voller Stolz.

"Despoina ich suche jemanden, vielleicht kennst du oder dein Opa ihn ja."

Sofort wollte sie neugierig wissen, wen ich suche und warum.
Ich gab ihr die dürftigen Hinweise, mehr hatte ich bisher nicht herausfinden können.

"Maria, ich bekomme Gänsehaut. Ich kümmere mich sofort darum, der Rest kann warten das ist wichtiger."

Genau das sind die Momente, in denen ich die Hellenen umarmen könnte. Diese unsagbare Neugier gepaart mit der unendlichen Freude, helfen zu können.

"Maria, gib mir fünf Telefonate."

Sie griff zum Telefonhörer und wählte zunächst den Taxistand an.
Ob jemand den Michalis S. kennen würde, er dürfte inzwischen in Rente sein und hätte drei Kinder.
Am anderen Ende der Leitung überlegte jemand, drei Minuten später rief er einen anderen Taxifahrer lautstark zum Telefonhörer.
Despoina erzählte die Geschichte erneut. Nachdem der Hörer noch zweimal weitergereicht wurde, war ich es inzwischen, die Michalis S. suchen würde.

Mein Dazwischenreden nutzte nichts. Despoina wurde immer lauter, sie kam irgendwie nun so richtig in Fahrt, legte dann auf und gab mir zu verstehen, dass sie noch jemanden anrufen muss.

Wieder erzählte sie die Geschichte, schmückte sie noch ein wenig aus und legte nach fünf Minuten zufrieden auf.

"Hier ist die Festnetznummer. Michalis hat als Taxifahrer gearbeitet, ist nun in Rente und wohnt im nächsten Ort, in Kalithies, gegenüber von der Kirche. Wir rufen ihn sofort an, Moment."

Ehe ich was sagen konnte, wählte sie bereits seine Nummer. Weder sie noch ich kannten Michalis S. aus Kalithies. Wir hatten eigentlich beide gar nichts mit der Geschichte zu tun.
Aber irgendwie hatte ich das Gefühl, wir gehörten jetzt dazu. Wir waren ein Teil dieser Geschichte, die wahrscheinlich woanders niemanden interessiert hätte. Jetzt hier in diesem Moment jedoch war es anders, er musste gefunden werden, egal wie.

Sie reichte mir den Hörer rüber, es klingelte am anderen Ende. Was sage ich jetzt bloß?
Wie erkläre ich einem völlig Fremden, wer ihn sucht. Ich war es ja nicht. Und wir reden immerhin von 30 vergangenen Jahren. Vielleicht erinnerte er sich gar nicht mehr.
Oder er würde einfach auflegen.

Nichts von alledem, er war offensichtlich gar nicht zuhause.

Und nu?

"Maria, dann musst du morgen dort vorbeifahren. Kalithies, Kirche, das findest du schon, ansonsten einfach jemanden fragen."

Am nächsten Tag war der erste Weg natürlich Richtung Kalithies. Die alte Kirche ragte über das ganze Dorf und war schon von Weitem zu sehen.
Mit dem Auto dort hochzufahren, machte keinen Sinn. Die Straßen waren viel zu eng und verwinkelt. Also ließ ich das Auto an der Plateia stehen und
erkundigte mich, um sicher zu gehen, am Kiosk, ob dies die Kirche sei, an der ich das Haus von Michalis finden würde.

"Ja, schau da oben, da ist der Kirchturm und gegenüber, da wohnt Michalis."

Ich beeilte mich, damit ich nicht erneut die ganze Geschichte, die ja eigentlich nur aus Fragmenten bestand, wiederholen musste.
Nach 15 Minuten durch enge Gassen und verwinkelte Wege kam ich erschöpft am höchsten Punkt des Dorfes an. Das Haus von Michalis war schnell gefunden, allerdings traf ich niemanden an. Auch rufen und klingeln war erfolglos. Ich wartete auf einer kleinen Bank an der Kirche und beobachtete von dort aus die Szenerie, um nach einer halben Stunde unverrichteter Dinge wieder zur Plateia zu gelangen.

Als ich am Abend im Hotel ankam, wartete schon Despoina auf mich. Hoffnungsvoll, erwartungsvoll, mit großen Augen und der Bereitschaft, bei einem Happy-End direkt in Tränen zu zerfließen.
Aber…tipota. Kein Michalis, kein Happy-End.

"Wie, er war nicht zuhause? Das gibt`s doch gar nicht. Wir müssen telefonieren, komm."

Eine Ablehnung hätte sie nicht akzeptiert. Genau an diesem Punkt treffen die Gefühlsebenen aufeinander. Jeder Mitteleuropäer hätte den Zettel mit den Stichpunkten spätestens jetzt zerknüllt in den nächsten Papierkorb geworfen. Despoina aber nicht.

Abermals glühte ihr Ohr am Telefon. Sie nickte, sie fluchte, sie wählte erneut.
Der Cousin des Cousins und davon die Tante oder der Onkel, irgendeiner muss die Handynummer von Michalis haben.
Jeder Grieche hat Verwandte und jeder hat mindestens eine Handynummer. Er kann sich nicht in Luft aufgelöst haben.
Eh ich begriff, dass sie die Handynummer herausgefunden hatte, wählte sie bereits.
Zwei Minuten später hatte ich den Hörer am Ohr.

Plötzlich kam eine kräftige Männerstimme durch den Hörer direkt zu meinem Ohr.

"Nai." Griechen melden sich nie mit Namen immer nur mit einem JA.

"Hier ist Maria, sie werden mich nicht kennen. Ich bin weitgereist und suche für eine Bekannte aus Österreich einen Michalis S."

Stille, er hatte nicht sofort aufgelegt. Er wartete ab.

"Dieser Michalis S. war Taxifahrer, hat drei Kinder und meine Bekannte kennt ihn aus einigen Urlauben, allerdings schon vor 30 Jahren."

Stille.

"Wer bist du denn?"

"Ich bin Maria, aber ich habe eigentlich gar nichts damit zu tun, ich soll nur schauen, ob ich Michalis finden kann."

"Ah, ja. Hat deine Freundin zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen?"

Er dreht nun den Spieß um, und stellte mir die Fragen.

"Ja, hat sie."

"Maria, wo wohnst du denn eigentlich, wo bist du gerade?"

"Im Hotel oben auf dem Berg in Faliraki," antwortete ich etwas zögerlich.

"Da du weißt, wo wir wohnen, komm vorbei. Wir trinken einen Frappe und reden über die alten Zeiten."

Etwas verblüfft gab ich zur Antwort: "Ja, aber ich wie gesagt, bin nicht die Suchende."

"Macht nichts, du bist die Bekannte von ihr, das reicht. Ich denke, in 15 Minuten kannst du hier sein, bis gleich."

Tage später erfuhr ich durch Zufall, dass Laki von der Autovermietung der Cousin war von Michalis, wir hätten es alles etwas einfacher haben können.

Aber diese Odyssee vom Suchen und Finden war so aufregend, dass mir die lange Variante letztendlich doch besser gefallen hat.

Maria Laftsidis-Krüger

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